Einlass. Die Bühne ist leer. Heinrich steht regungslos mit dem Rücken zum Publikum. Er harrt aus, bis der Einlass fertig ist. Lichtwechsel. Er bewegt sich nicht.
HEINRICH (murmelnd zu sich):
Mit höchster Dringlichkeit verlangte es die Kirche, das Schicksal ihrer ärmsten Schafe in meine Hände zu legen.
I
Heinrich dreht ganz langsam den Kopf zum Publikum, er spricht mit gespenstisch ruhiger Stimme.
HEINRICH:
Oh. Ich hab Sie gar nicht kommen sehen.
Er nimmt sich unglaublich viel Zeit, um das Publikum zu betrachten, nimmt ein Taschentuch, tupft sich die Stirn und wischt sich schließlich die Hände ab.
Er steckt es wieder ein.
HEINRICH:
Aber wo Sie schon mal da sind. (Gedankenverloren) Viel gibt es hier ja nicht zu sehen. Außer vielleicht mich, aber das interessiert Sie sicher nicht. Nein, ich hab’ auch nichts zu erzählen. Keine Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden. (seufzt) Also. Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Sehr bescheiden. Reizarm. Dunkel. Warm. Wie Marias Schoß.
Aber wo Sie schon mal da sind. Es wäre ja schändlich, wenn ich Sie nicht unterhalten könnte. Nicht? Jaja natürlich, ich bin ein bisschen verstaubt, ein bisschen steif in den Knochen. Aber ich weiß eine gute Zeit zu schätzen, ja, das können Sie mir glauben. Sie doch sicher auch, wenn ich Sie so anschau’.
Oder Sie erzählen ein bisserl was von sich. Da müssen’S jetzt nicht schüchtern sein, ich bin ein Beichtvater der alten Schule. Mich bringt so schnell nichts aus der Fassung. Einen klaren Geist und die Hoffnung, das hab ich mir über die Jahre bewahrt und vor Rückschlägen bin auch ich nicht verschont geblieben, das können’S mir wirklich glauben.
Wenn Sie wüssten, was man mir schon alles anvertraut hat. Das kann sich ein so ein junges Dirndl gar nicht vorstellen. Göttliche Gnade. Sie wissen doch gar nicht mehr, was das heißt. ICH habe der Gnade mein Leben gewidmet!
Entschuldigens’, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Sie sind ein guter Mensch, das sieht man. Ja. Man sieht das an den Augen. Die Augen verraten alles, da liegen Welten drin. Überhaupt das Gesicht.
Wissen Sie, die Leute glauben immer, man muss in die Welt hinaus, um etwas Neues zu entdecken. Aber das stimmt nicht.
Die Dinge liegen ja drinnen, im Verborgenen, im Argen. Das Gute und das Schlechte. Aber- auweh, ich monologisier’ schon wieder!
Andererseits können’S ja auch gehen, wenn Sie das nicht interessiert.
“Geistige Rührigkeit” hat man mir einmal attestiert. Die Leute attestieren ja sehr gerne, eine ketzerische Angewohnheit, wenn Sie mich fragen.
Aber die Deutungshoheit über meine Person, die geb’ ich Ihnen nicht so einfach. Das Urteilen ist eine Kunst, die muss man sich erarbeiten, auch, wenn die Dinge im Grunde sehr einfach sind: Da gibt es das Gute und das Böse, Ordnung und Unordnung. Leben und Tod, wenn Sie so wollen.
Ja, die Sache ist so einfach. Das muss man sich nicht schönreden. Als ehrlicher Mensch weiß man, ob die eigenen Taten gut oder schlecht sind. Entweder bist du korrekt oder nicht. Da sind wir alle gleich, vor- (er schaut instinktiv nach oben)
Das Gute, das Menschliche, das Warme, das Heile, früher hätte man Gottes Wille gesagt. Aber bitte bitte, tun’S mich nicht verurteilen, das sind doch nur Worte!
Und früher hat man das eben so gesagt. Doch die Idee, die ist gleich. Bei Ihnen und bei mir. Jetzt passen’S auf, ich zeig Ihnen was. (Er sucht eine Schallplatte und legt sie auf den Plattenspieler, beiläufig erzählt er weiter.)
Sie müssen wissen, auch ich bin ein Kind meiner Zeit. Ich glaube, dass gewisse Dinge passieren müssen. Schicksal, wenn Sie so wollen. Und wenn ich mich dieser Dinge, dieser Angelegenheiten nicht angenommen hätte, dann wäre es halt ein anderer gewesen. Und ja, als Mensch hat man die Entscheidung, man kann entscheiden, auf welche Seite der Geschichte man sich schlägt, nicht? Wir sind schließlich keine Tiere, kein willenloses Vieh, kein dämonisches.
Aber wer sagt, dass wir da einer Meinung sein müssen. Über die richtige Seite, meine ich. Sie sind frei zu wählen und ich auch. Und ich bin ein alter Rebell, Ihre Meinung soll mir nicht Maßstab sein, sondern… (er zeigt nach oben) … Gnade.
Verstehen Sie? Göttliche Gnade – und die zeigt sich nicht jedem. Man muss wissen, wann man gnädig ist und gnädig zu handeln hat, damit einem selbst Gnade zuteil wird. Ich habe mich in der Gnade und im Göttlichen – sofern mir dieser Ausdruck gestattet sein mag – ein Leben lang geübt.
Ich habe arme, hilflose Seelen gerettet, ihnen das Übel ausgetrieben, wenn man so will, und meine Schlüsse aus einem langen und erfüllten Dasein gezogen. Man hat es mir nicht leicht gemacht, das möcht’ ich nur anmerken. Ja sicher, ich bin nicht gänzlich unbescholten, aber wer ist das schon.
Das wissen Sie doch auch.
(stolz) Aber ich habe stets im Sinne der Gnade gehandelt.
Er verliert sich in Gedanken.
Waren Sie schon mal in Innsbruck?
Was für ein Moloch!
Heinricht setzt die Nadel des Plattenspielers auf:
MUSIK: Fugue No. 2 von J.S. Bach
Erhebend, nicht? Bach war ein großer Geist. Es ist nicht selten das Los der Großen, also der wirklich Großen, verkannt zu werden. Tragisch.
Hier stehe ich vor Ihnen und wie Sie über meinen Geist urteilen, liegt nicht in meiner Macht. Das ist auch nicht wichtig, da muss man bei sich bleiben. Ihre Meinung bedeutet mir nichts.
Nehmen Sie sich das zu Herzen: egal was im Leben und um einen herum passiert, man muss reinen Herzens bei sich bleiben und das Richtige tun. Wer bin ich denn, wenn nicht Knecht der Knechte Gottes.
Zu meiner Zeit hat man das eben so gesagt.
Ich bitte Sie, nehmen’S mich da nicht so wörtlich.
(er deutet auf die Schallplatte)
Bach hat sieben Kinder verloren. Auch das ist eine Tragik fern jeder Gnade, wenn ich mir die kritische Bemerkung erlauben darf. Ein gottbegnadeter musischer Geist, aber sein Herz war gebrochen.
Was ist das für eine Welt? Was ist das für eine Welt, in der Kinder bei ihrer Geburt bar jedes mütterlichen Instinkts den Dämonen preisgegeben werden? Was ist das für eine Welt? Unschuldige, hilflose Wesen, die-
Das waren dunkle Zeiten.
Er fängt sich wieder, erkennt, dass er das Publikum verängstigt hat.
Oh. Bitte, ich will Sie nicht- ich wollt’ Sie nicht erschrecken.
Aber einer muss es erzählen.
Einer muss die Wahrheit sprechen!
Einer muss verkünden, welches Unrecht in meiner Zeit begangen wurde.
So viele Frauen… ich wollte das richtige tun, wollte sie retten, das gebrechliche-
Mit höchster Dringlichkeit verlangte es die Kirche, das Schicksal ihrer ärmsten Schafe in meine Hände zu legen.
II
Er hält inne und überlegt kurz
Sagen Sie mir, was würden Sie tun, käme jemand in Ihr Haus und schädigte Ihre Mutter, Ihre Schwester, Ihre Brüder und Väter und sämtliche… Kreaturen in Ihrer Obhut? Sie würden das Übel nicht aufhalten? Nicht die schützende Hand über die Ihrigen legen?
Vielleicht wären Sie überbordend? Ja. Streng? Ja. Hart?
Aber wer wäre nicht hart im Dienst der Gerechtigkeit und wenn es darum geht, sich für jene einzusetzen, die meinen Schutz brauchen. Ich bekenne, mit dieser meiner eigenen Hand, mich zum Schutz meiner Glaubensfamilie. In alle Ewigkeit.
Ich schütze sie vor Plage, Elend, Schaden, und wenn eine Frau dem Teufel anheimfällt, sich seines Glieds bemächtigt, dem Bösen ergibt, dann Gnade ihr Gott und fälle sein Urteil. Und ich bin Gottes Knecht.
Ich lasse das arme Ding nicht leiden.
Ich helfe, wenn ihr noch zu helfen ist.
Ich heile, wenn sie noch zu heilen ist.
Ich zeige ihren Platz auf der Welt und im Glauben!
Frauenseelen kranken oft an ihrem sinnlosen Dasein.
Ist es verwunderlich, dass sie sich den manipulativen Künsten zuwenden, um ihren Platz zu finden? Stets auf der Suche, stets im Kampf mit der eigenen liederlichen Natur?
Gebrechliches Geschlecht. Ihnen fehlt die Demut.
Man muss sich mit seinem Schicksal abfinden, wissen Sie? Aus mir wird auch kein… Doktor mehr. Ich sehe sie leiden und kranken, ich möchte ihnen helfen.
Aber ich bin kein Doktor. Meine Aufgabe ist das Urteil. Die Gnade.
Sie sind anderer Meinung, das sehe ich Ihnen an. Die Augen.
Sie spotten vielleicht über meine Worte, aber ich erinnere Sie: das Gute und das Böse. Vernunft und Wahnsinn, Tag und Nacht, Leben und Tod, Ordnung und Unordnung, Mann und Frau. Zwei Seiten. Sie entscheiden. Und dazwischen gibt es nichts. Und sprechen Sie mir nicht von-
(plötzlich schreit er)
ICH BIN GUT!
ICH BIN VERNÜNFTIG!
ICH BIN EIN MANN! GOTTES!
Er fängt sich wieder, tupft sich die Stirn ab, lockert den Kragen, beruhigt sich.
So. Wo waren wir? Innsbruck. Nun, ich bin kein Freund der Gewalt. Wirklich nicht. Aber ich habe mich mit Leib und Seele dem Schutze der Gesellschaft, dem Aufspüren und der Ausrottung der Hexerei verschrieben. Um die Menschen vor den Auswüchsen der Scharlatanerie, Schadenszauber und Ketzern zu schützen.
Und ich habe in Innsbruck damit begonnen. Glauben Sie mir, die Zeit war überreif.
Natürlich, mit dem Tod will man sich nicht einlassen, auch ich nicht. Ich bin ein friedfertiger Mensch. Aber Recht ist Recht und das göttliche Recht sagt, dass man das Böse nicht nur vertreiben, sondern naja… aber das ist nicht meine Aufgabe.
Einer muss sich opfern, verstehen Sie?
Einer muss sich knechten lassen.
Das bin ich. Und ich vertraue auf die göttliche Gnade. Ich schütze die, die rechtens sind. Natürlich sind Sie frei. Frei zu wählen, auf welcher Seite Sie stehen.
Jede darf machen, was sie will, aber – da werden Sie mir doch wohl Recht geben – aber die eigene Freiheit hört dann auf, wenn andere verletzt werden. Und das ist mein Stichwort, ich urteile nicht, Sie erinnern sich.
(eindringlich, aber sanfter werdend)
Ich wurde gerufen, das Übel aufzuhalten, ich höre zu, ich stelle Fragen, dagegen ist nichts einzuwenden. In Innsbruck waren es einige. Und ich habe sie gefragt, man erkennt das an den Augen, und trotzdem habe ich die Fragen gestellt, trotzdem war ich fair.
MUSIK: This Love of Mine von Extensions
Ein vollkommenes Lied.
Finden Sie nicht? Entschuldigen Sie, aber da werd’ ich sentimental. Jeder hat seine weichen Stellen, Sie doch sicher auch.
Nana, erzählens nur! (schäkernd) Ich bin doch kein Inquisitor. Mehr.
Wenn Sie mich früher gekannt- Ich habe mich gar nicht vorgestellt!
Heinrich. Nennen Sie mich einfach Heinrich. Ich war einmal jemand, vor langer Zeit. Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.
Verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Welt geht auch ohne mich zugrunde. Wir sind die Krone der Schöpfung! Das göttliche Meisterwerk. Es waren einmal dunkle Zeiten, dann hat die Tugend, die Ordnung, Sie wissen schon, die Dunkelheit überstrahlt. Alles Weltliche hat seinen Platz gefunden. Und-
Heinrich sucht nach Worten. Plötzlich wirkt er ganz harmlos, verzweifelt, fast armselig, als wäre er sich seiner Schuld bewusst.
Man hat mich gerufen, wissen Sie? Man hat mich bestellt, zu richten. Und wer bin ich, mich gegen die Gnade zu stellen?
Die Menschen waren in Sorge, die Menschen hatten Angst. Das waren ganz andere Zeiten, das- ich habe sie befragt. Ich habe alle Regeln befolgt, die Würde gewahrt, nur gefragt, erstens ob der teuflische Samen sich über sie ergossen hätte, zweitens bezüglich Zeit und des Ortes und ob er sich für andere sichtbar verhalten hätte und drittens, ob bei solchen der Liebesgenuss vorhanden gewesen sei, in geringer oder erheblicher Vehemenz.
Ja, man wird doch fragen dürfen!
Und habe ich ein Zögern bemerkt, eine Zurückhaltung, Verweigerung, was sollte es mir anderes sein, als ein Indiz für die dämonische Präsenz, für das Böse?
Ein “Hang zur Menschenquälerei”. Ich hätte meine Kompetenzen überschritten. Mir, der ich als einzige Seele in diesem gottverlassenen Moloch den Schaden abwenden wollte.
Ich quäle nicht, ich frage.
Ich urteile nicht, ich spreche in Gnade.
Wissen’S, Sie müssen keine Angst vor mir haben. Ich will Ihnen nichts Böses. Ich wollte niemandem Böses. Ich wollte ein Himmelreich schaffen, frei von Ketzerei, Schädigung, von Niedertracht und Hexenwerk. Einen Himmel ohne Hölle.
Ich wollte zu viel. Aber da müssen’S mich auch verstehen.
Ist Ihnen das nie passiert? Dass man Ihnen die gute Tat als Bösartigkeit verkannt hat? Das Menschsein und seine Missverständnisse. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: das Urteil der anderen ist nicht wichtig. Das Missverstehen ist ein menschlicher Zug, die Gnade ein göttlicher. Vertrauen Sie auf die Gnade. Lassen Sie sich das sagen, ich weiß, wovon ich spreche.
Und vertrauen Sie, vertrauen Sie mir! Vertrauen Sie sich mir an. Antworten Sie doch! Beantworten Sie meine Fragen! Entkräften Sie den Verdacht und Sie haben nichts zu befürchten! Sie können ein ruhiges und frommes Leben führen, gänzlich unbehelligt von meinem Auftrag.
Und so destillierte sich eine Gruppe von zwei Männern und 48 Weibern – das sagt man heute natürlich nicht mehr, aber so wurde es damals amtlich vermerkt – auf sieben dringend verdächtige und zu Prozessierende.
Hiob 10: „In dem Lande, da keine Ordnung, sondern ewiger Schauder wohnt,
nämlich des Elendes und der Finsternis,“ – ich bin das Licht, wenn Sie so wollen.
Ich habe Ihnen gar nichts zu trinken angeboten! Bitte, fühlen Sie sich ganz zuhause!
Bitte bleiben Sie.
Hören Sie mich an.
Bitte.
Nun, worauf es auch zurückzuführen sei, ich wurde der Stadt Innsbruck verwiesen. Damals. Ich kam zu spät. Ewiger Schauder, Elend, Finsternis. Und damit hat sich alles verändert. Ich war nicht mehr derselbe. Wenn sich die Welt von dir abkehrt, findest du Gnade. Die da oben sollten ihre Schützlinge nicht länger ins Verderben führen. Man muss etwas tun. Ich habe etwas getan. Mit höchster Dringlichkeit verlangte es die Kirche, das Schicksal ihrer ärmsten Schafe in meine Hände zu legen.